10. Gitarrenverstärker
© M. Zollner 2007
10-70
Bei dem in Abb. 10.4.11 dargestellten Zeitsignal haben die beiden Halbwellen unterschied-
liche Amplituden – sie sind jedoch nicht
halbwellen-antimetrisch.
Halbwellen-Antimetrie
bedeutet, dass sich ein zeitperiodisches Signal nach der halben Periodendauer mit invertiertem
Vorzeichen wiederholt:
u
(
t
) = –
u
(
t
+
T
/2). Aus dem Verschiebungs- und Additionssatz der
Fourier-Transformation kann man problemlos ableiten, dass derartige Signale nur ungerad-
zahlige Harmonische enthalten können. Solange also die Übertragungskennlinien der beiden
Halbwellen-Übertragungszweige übereinstimmen, können folglich nur Klirrfaktoren un
ge-
rader Ordnung (
k
3
,
k
5
,
k
7
etc.) entstehen. Schon in der
Phasenumkehrstufe
beginnt aber die
"Unsymmetrie
♣
" der Steuersignale. Die Verstärkungen der Paraphase (Kap. 10.4.1) sind so
verschieden wie die beiden Systeme der Doppeltriode, und so wurde ihr schon früh eine
Gegenkopplung verordnet. Kathodyn-Schaltung und Differenzverstärker zeigen wesentlich
weniger Abhängigkeit von individuellen Röhrendaten, sie
könnten
zwei betragsgleiche und
ausreichend genau um 180° gegeneinander verschobene Steuersignale liefern – solange in den
Endröhren vernachlässigbare Gitterströme fließen. Wieso findet man aber schon im Schalt-
plan Unsymmetrien, warum unterscheiden sich die Verstärkungsfaktoren der beiden Halb-
wellen – selbst bei idealen Röhren? Die Antworten waren und bleiben spekulativ:
1.
Die Entwickler der frühen Schaltungen hatten von Elektrotechnik noch relativ wenig
Ahnung; später wurden die Archetypen dann einfach kritiklos nachgebaut.
2.
Mit diesen gewollten "Unsymmetrien" sollte ein spezieller Sound erzeugt werden.
3.
Mit den Schaltungs-Unsymmetrien sollten andere Unsymmetrien korrigiert werden.
4.
Gitarren-Verstärker waren ja keine Messgeräte, die Genauigkeit war nachrangig.
Zu 1: Diese Vermutung ist nicht ganz von der Hand zu weisen, Leo Fenders Erklärungen zur
Elektrotechnik bzw. zur Magnetik sind – um es konziliant auszudrücken – einem Buchhalter
(der er ja war) durchaus angemessen. Einem genialen Buchhalter – zweifelsohne. Doch schon
in den frühen Schaltungen finden sich Verbesserungen (von wem auch immer erfunden): Die
gegengekoppelte Paraphase taucht um 1954 in Fenders Deluxe auf, allzu groß sollten die von
Röhren-Streuungen hervorgerufenen Unsymmetrien wohl doch nicht werden. Der Abgleich
einer Endstufe lässt sich ja auch ohne großartige Netzwerkanalyse bewältigen: Mit einem
Oszilloskop und einer Widerstandsdekade erreicht man da schon ziemlich viel, und das dürfte
sogar im Labor der frühen Protagonisten zur Verfügung gestanden haben.
Zu 2: Ein verlockender Gedanke, der zum Disput herausfordert. Einerseits: Der Standard-
Musiker (bzw. -Kunde) kann und wird beim Röhrentausch ja nicht Schaltungswiderstände
aus- und einlöten; wäre die o.a. Unsymmetrie klangbestimmend, so wäre sie zufällig – weil
keine Schaltung die Streuungen der Röhren (insbesondere der Endröhren) völlig ausgleicht.
Und somit entstünde ein Widerspruch zur Zielsetzung, einen
speziellen
Sound zu erzeugen.
Andererseits: Gerade deshalb suchen sich ja Musiker unter 5 Deluxe-Verstärkern den heraus,
der am besten klingt. Ob dieser Verstärker dann nie mehr eingeschaltet wird (damit seine
Röhren nicht altern und sein einzigartiger Klang erhalten bleibt), darf aus verständlichen
Gründen nicht gefragt werden. "NOS-Röhren nachkaufen", sagt da die Werbung
…
Zu 3: Auch da könnte etwas dran sein, vielleicht in Verbindung mit 1). Da entdeckt der Ent-
wickler, dass die Phasenumkehrstufe un
symmetrisch arbeiten muss, damit am Lautsprecher-
Ausgang ein symmetrisches Signal entsteht. Vielleicht hat ja der Ausgangsübertrager eine
spezielle Unsymmetrie? Nicht, weil die Wickelmaschine falsch zählt, sondern weil sich leicht
unterschiedliche (magnetische) Kopplungsfaktoren ergeben. Das kann man in der Phasen-
umkehrstufe kompensieren – aber natürlich nur, solange die Übertragerdaten gleich bleiben.
♣
die man ohne weiteres auch "Un-Antimetrie" nennen könnte