8.3 Der Charakter der Tonarten
© M. Zollner 2004 - 2009
8-37
8.3
Der Charakter der Tonarten
"Und tatsächlich machte es den Anschein, dass für Beethoven gewisse Tonarten bestimmte
Charaktere hatte, die sie für entsprechende Stimmungen und Inhalte vorzugsweise brauchbar
machten
♣
". Diese und ähnliche Aussagen haben dazu geführt, Tonarten einen absoluten Cha-
rakter zuzuweisen, im Sinne von Es-Dur = heroisch, C-Dur = unpersönlich, E-Dur = feierlich.
Das könnte verschiedene Ursachen haben:
a) Tonarten haben einen Charakter. Geniale Musiker (wie z.B. Beethoven) haben das erkannt,
und ihre Kompositionen danach orientiert.
b) Aus welchem Grund auch immer haben geniale Musiker an Tonartencharaktere geglaubt.
Liebhaber ihrer Musik haben das verinnerlicht, gelernt, nachgemacht, weitergegeben, und so
entstand eine sich selbst erfüllende Prophezeiung: Weil Es-Dur heroisch klingt, komponiert
man heroische Musik in Es-Dur. Und folglich klingt Es-Dur heroisch.
c) Das Ganze ist nichts als purer Zufall.
Mies berichtet überzeugend von einem Experiment, das auf die Existenz absoluter Charaktere
hinweist: Er spielt Schuberts Impromptu ca. 20 Schülern vor; einmal in G-Dur, einmal in Ges-
Dur, und fragt, welches denn die ursprüngliche Tonart sei. 3 Schüler sind für G-Dur, die
übrigen für Ges-Dur. Begründung: Die bessere Übereinstimmung des Klanges mit der Stim-
mung des Stückes. Mies weiß um die begrenzte Aussagekraft dieses einzelnen Experiments,
und beginnt systematische Untersuchungen an einer Vielzahl von Klavierwerken. Seine Er-
gebnisse sind auf den ersten Blick widersprüchlich: Einerseits kommt er zu einer Charakter-
Zuordnung (Tabelle s.u.), andererseits fasst er zusammen: "Und da haben die Untersuchungen
einwandfrei erwiesen, dass es einen allgemeinen Charakter der Tonarten, über alle Zeiten und
Komponisten, Taktarten und Zeitmaße, Rhythmen und Melodien hinweg nicht gibt.
Ein all-
gemeiner Charakter der Tonart, unabhängig von Komponist, Zeit, Hörer usw. existiert
nicht
. Indes steht dieses Fazit nicht im Widerspruch zur Tabelle, denn diese beantwortet die
Frage: Welche Zuordnungen haben die untersuchten Komponisten bevorzugt? Wenn nun aber
D-Moll für Brahms leidenschaftlich ist, dann kommt dieser Erkenntnis keine größere Bedeu-
tung zu als etwa der Aussage: Es-Dur ist Beethovens Lieblingstonart. Wer wollte großen
Komponisten subjektive Präferenzen absprechen? Ein Pars-pro-toto-Prinzip wird hierdurch
aber nicht begründet.
C-Dur:
Objektiv, äußerlich, unpersönlich. Tonart der Wahrheit. Für Dank, Ehrenbezeugungen.
Cis-Dur:
Flimmernd, blitzend, lebhaft, virtuos.
Des-Dur:
Weich, sanft, gefühlsmäßig.
D-Dur:
Marschtonart, Tusch, Heiterkeit, Freude, festlicher Prunk, Racheszenen.
Es-Dur:
Ernsthaft, gemessen, tiefe Liebe, peinigender Liebesschmerz.
E-Dur:
Feierlich, ernst bis schwermütig. Gehört erhabenen, weltfernen Augenblicken.
F-Dur:
Freundlich, natürlich, maßvoll.
Fis-Dur:
Leidenschaftlich, heiße Liebe.
G-Dur:
Einfach, unkompliziert, heiter.
As-Dur:
Still, gefühlvoll, sehnsüchtig. Finstere Szenen.
A-Dur:
Mannigfach, lieblich, ständchenhaft. Tonart froher Menschen. Ausdruck von Glanz.
B-Dur:
Lustig, scherzhaft, sanft. Herzliches Empfinden.
H-Dur:
Kein Grundcharakter.
Tabelle:
Der Charakter der Tonarten. Paul Mies, 1948. Stark verkürzte Darstellung.
♣
P. Mies, Der Charakter der Tonarten, Staufen, Köln 1948