1. Grundlagen zur Saitenschwingung
© M. Zollner 2002
1-18
1.3.2
Dispersion im Zeitbereich
Gitarrensaiten werden mit dem Finger oder mit dem Plektrum angezupft. Eine langsam an-
steigende Kraft zieht die Saite aus ihrer Ruhelage, dann reißt diese Kraft plötzlich ab, und die
Saite führt eine freie gedämpfte Schwingung aus. Die idealisierte Zeitfunktion der Anregung
ist ein
Kraftsprung
: Zum Zeitpunkt
t
= 0 springt die Kraft von einem Anfangswert auf null.
Von der Anzupfstelle ausgehend läuft nach beiden Seiten eine Sprungwelle auseinander, die
aber nun dispersionsbedingt ihre Form verändert: Die hohen Frequenzanteile des Sprungs
laufen schneller als die niederfrequenten, der Sprung wird zeitlich und örtlich auseinander-
gezogen. Systemtheoretisch lässt sich die dispersive Ausbreitung durch einen
Allpass
model-
lieren; dies ist ein lineares, verlustfreies Filter mit frequenzunabhängigem Übertragungsmaß,
dessen Verzögerungszeit frequenzabhängig ist (Kap. 1.3.1). Die übertragungsrelevanten
Allpassgrößen sind Übertragungsfunktion und
Impulsantwort
.
Die Impulsantwort eines linearen Systems ist die inverse Fouriertransformierte seiner Über-
tragungsfunktion. Für beliebiges Eingangssignal erhält man das Ausgangssignal des Systems
durch Faltung des Eingangssignals mit der Impulsantwort. Wird das System am Eingang z.B.
mit einem Sprung angeregt, so ergibt sich nach dieser Definition das Ausgangssignal als
Faltungsprodukt von Sprung und Impulsantwort. Für diesen speziellen Fall ist aber eine
Vereinfachung möglich: Der Sprung ist das zeitliche (Partikulär-) Integral des Impulses. Die
Integration ist wie die Differentiation eine lineare Operation. Damit darf die Reihenfolge:
Impuls / Integrator / System vertauscht werden zu: Impuls / System / Integrator (kommu-
tatives Gesetz). Die Sprungantwort eines linearen Systems entspricht somit der integrierten
Impulsantwort, wie auch die Impulsantwort der differenzierten Sprungantwort entspricht.
Das im Folgenden verwendete Modellsystem zur Nachbildung der angezupften Saite ist ein
Allpass, an dessen Eingang eine Sprungfunktion anliegt.
In
Abb. 1.15.a
ist links das Messergebnis einer E
2
-Saite dargestellt, die auf halber Länge
angezupft wurde (
z
=
L
/2). Das Bild rechts daneben zeigt zum Vergleich die Sprungantwort
eines Allpasses. Neben deutlichen Unterschieden gibt es auch einige Gemeinsamkeiten: Die
Sprungantwort wechselt nach 3 ms endgültig ihre Polarität, diese Verzögerungszeit entspricht
der tieffrequenten Gruppenlaufzeit über eine halbe Saitenlänge. Ab etwa 1 ms sind schnelle
Oszillationen zu beobachten, dies entspricht der kürzeren hochfrequenten Gruppenlaufzeit.
Beim Piezosignal sind die hochfrequenten Schwingungen stärker bedämpft (Höhenabfall),
hinzu kommt bei 0 – 2 ms ein plektrumbedingtes Tal. Nach 3 ms treten Ausschwingvorgänge
der Longitudinalresonanzen auf (Kap. 1.4), sie fehlen in der Allpasssimulation.
0
1
2
3
4
5
6
-1
-0.5
0
0.5
1
Piezosignal
ms
0
1
2
3
4
5
6
-1
-0.5
0
0.5
1
A lpass - Simulation
ms
Abb. 1.15.a:
Piezosignal (links) und einfache Allpasssimulation (rechts); Sprunganregung in Saitenmitte
bei
t
= 0. Vorzeichen und Offset wurden beim Piezosignal passend gewählt.