7. Hals und Korpus
© M.Zollner 2004
7-40
Die Sätze über Reaktanz-Zweipolfunktionen [z.B. 7] besagen, dass sich längs der
j
ω
-Achse
einfache Pole und Nullstellen abwechseln. Zwischen den Polen und Nullstellen verhält sich
der mechanische Reaktanz-Zweipol (d.h. das "reaktive" Saitenlager) entweder federnd oder
träge, die Teiltöne der Saite werden dementsprechend entweder erniedrigt oder erhöht (Kap.
2.5.2). Je ein Pol-Nullstellenpaar (der positiven imaginären Achse) erzeugt einen zusätzlichen
Teilton, mit
n
= 8 erhält man somit schon vier zusätzliche Teiltöne. Da alle Teile einer Gitarre
kraftschlüssig verbunden sind, muss theoretisch mit sehr vielen schwingfreudigen Teilmassen
und -federn gerechnet werden, und folglich mit sehr vielen zusätzlichen Teiltönen. Beim idea-
len, verlustfreien Lager! Sobald man aber dem Lager
resistive Elemente
zugesteht, ändert
sich die Situation grundlegend: Nur mehr die ganz schwach bedämpften Resonanzen können
die Phase um 2
π
drehen und Zusatztöne erzeugen, alle anderen Resonanzen führen nur mehr
zu kleinen Frequenzverschiebungen.
Die mechanische Impedanz eines verlustbehafteten Lagers ist keine Reaktanz-Zweipolfunk-
tion, sondern eine
Zweipolfunktion
, d.h. eine reelle, rationale und positive Funktion von
p
.
Alle Pol- und Nullstellen der Lagerimpedanz
Z
(
p
) liegen links von der
j
ω
-Achse. Bildet man
Z
(
p
) auf den komplexen Reflexionsfaktor
r
(
p
) ab, entsteht keine reine Allpassfunktion, viel-
mehr sind Phase
und Dämpfung
frequenzabhängig.
Q
V
W
Q
V
W
V
Q
W
V
Q
W
Z
W
Z
W
r
+
⋅
-
⋅
=
+
-
=
+
-
=
Komplexer
v
-Reflexionsfaktor
Die Lagerimpedanz
Z
kann als gebrochen rationale Funktion
Q
/
V
dargestellt werden; aus den
n
Polen und Nullstellen der Impedanz werden durch die Abbildung
n
neue Pole und Nullstel-
len – die Ordnung
n
bleibt (für reellen Wellenwiderstand
W
) erhalten. Aus
W
⋅
V
+ Q
erhält
man durch Nullsetzen die Pole des Reflexionsfaktors, sie liegen alle links von der
j
ω
-Achse
(stabiles System). Aus
W
⋅
V
–
Q
erhält man durch Nullsetzen die NSt des Reflexionsfaktors,
und die können nun in der ganzen
p
-Ebene liegen! Liegen
r
-NSt
auf der j
ω
-Achse
, ergibt sich
bei der zugehörigen Frequenz
Anpassung
: Der Reflexionsfaktor ist null, die gesamte Wellen-
Energie wird vom Lager absorbiert. Liegen
r
-NSt
rechts von der j
ω
-Achse
, enthält der Re-
flexionsfaktor (u.a.) einen
Allpass
. Liegen alle
r
-NSt
links von der j
ω
-Achse
, ist der Reflexi-
onsfaktor
allpassfrei
(= minimalphasig).
Etwas vereinfacht: Jede Lager-Resonanz ergibt ein Pol/NSt-Paar des Reflexionsfaktors. Die
Pole des Reflexionsfaktors liegen immer in der linken
p
-Halbebene, die NSt des Reflexions-
faktors können links oder rechts liegen. Eine links liegende NSt verursacht nur Teilton-
verstimmungen, eine rechts liegende NSt erzeugt einen zusätzlichen Teilton.
Ein
Resonanzkreis
als Lager (d.h. ein Feder/Masse/Dämpfer-System) absorbiert schmalban-
dig Schwingungsenergie und verringert den Betrag des Reflexionsfaktors von 1 auf Werte
knapp unter 1. Ist der Resonanzkreis minimalphasig, tritt nur eine kleine Phasenverschiebung
auf: Unterresonant ist die Phase der Reflexion leicht negativ, überresonant leicht positiv, mit
wachsendem Abstand von der Resonanzfrequenz nimmt die Phasendrehung gegen null ab. Ist
der Resonanzkreis aber allpasshaltig (nicht minimalphasig), dreht er die Phase mit steigender
Frequenz um -2
π
, wodurch ein zusätzlicher Teilton erzeugt wird. Die Grundlagen zu dieser
Betrachtungsweise finden sich in der Systemtheorie [6, 7], der Reflexionsvorgang kann als
Abbildungseigenschaft eines linearen und zeitinvarianten Systems aufgefasst werden.