2. Die Saite als Leitung
© M. Zollner 2002
2-22
Für
∞
→
L
Z
wird der Schnelle-Reflexionsfaktor
-
1, die Schnelle-Welle wird vollständig
gegenphasig reflektiert, die Kraft-Welle vollständig gleichphasig. Dieser Fall gehört zu einem
unbeweglichen Lager, an dem die Saiten-Schnelle immer null ist. Eine Gitarrensaite darf na-
türlich nicht mit
r
= 0 betrieben werden, sonst könnte sich keine "periodische" Schwingung
einstellen. Mit
r
=
±
1 würde eine Schwingung nie mehr abklingen – zumindest im Rahmen
der hier zugrundegelegten Idealisierungen.
In Kap. 1.6 wurden Untersuchungen zum Ausschwingen vorgestellt. Wenn die Schwingung
einer E
2
-Saite z.B. in 12 s um 60 dB (rein exponentiell) abnimmt, dann nimmt sie in 12 ms
(1 Periode) um 0,06 dB ab; dies entspricht 0,7%. Der Reflexionsfaktor ist damit 0,993 pro
Periode. Nun wird aber eine Saitenwelle pro Periode zweimal reflektiert, also muss man diese
0,7% Absorption auf die Steg- und Sattelreflexion aufteilen, z.B. Sattel 0,3% und Steg 0,4%.
Typischerweise ergibt sich ein Reflexionsfaktor nahe bei 1.
Mit einer rein
reellen Lagerimpedanz
wird der Reflexionsfaktor reell, denn
Z
W
ist auch reell.
Für reelles
r
ist die Phasendrehung zwischen hin- und rücklaufender Welle entweder 0° oder
180°. Im Gegensatz zur Reflexion an einer imaginären Lagerimpedanz ist die Amplitude der
rücklaufenden Welle nun kleiner als die der hinlaufenden. Bei der Gitarrensaite ist die Lager-
impedanz
Z
L
groß gegenüber
Z
W
, damit erhält man als Näherung:
(
)
(
)
(
)
L
W
L
W
L
W
L
W
L
W
L
W
L
W
v
Z
Z
Z
Z
Z
Z
Z
Z
Z
Z
Z
Z
Z
Z
r
2
1
1
1
1
1
-
-
≈
-
⋅
-
-
≈
+
-
-
=
+
-
=
Ein negativ-reeler Reflexionsfaktor zeigt an, dass die Schnelle-Reflexion gegenphasig erfolgt.
Ist der Realteil des Reflexionsfaktors ungleich null, fließt Wirkenergie in die Lagerpunkte
(
Dissipation,
Saitenbedämpfung). Für die Saite ist es dabei gleichgültig, ob diese Energie
vom Korpus abgestrahlt oder direkt im Saitenlager in Wärme umgewandelt wird – die ab-
fließende Energie steht der Saite nicht mehr als Schwingungsenergie zur Verfügung.
Das andere Extrem ist eine rein imaginäre Lagerimpedanz, wie sie von einer Masse oder einer
Feder gebildet wird. Auch wenn das Lager aus mehreren Massen und Federn aufgebaut ist, so
ergibt sich
bei einer Frequenz
immer nur eine entweder träge oder steife Lagerimpedanz. Für
rein imaginäre Lagerimpedanz
sind Zähler und Nenner des Reflexionsfaktors konjugiert
komplex; der Betrag von
r
ist somit 1. Und zwar exakt 1! Hin- und rücklaufende Welle wer-
den zwar in ihrer Phase verschoben, ihr Betrag bleibt aber erhalten, die Schwingungsenergie
nimmt nicht ab. Nachdem sich aber die Phase der fortschreitenden Wellen auch als Funktion
des Ortes ändert (Wellengleichung), kann man die phasenverschobene Reflexion modellhaft
als nicht-phasenverschobene Reflexion eines anderen Ortes auffassen. Man stellt sich vor, die
Welle würde ein kleines Stückchen hinter dem Steg ohne Phasendrehung reflektiert, und die
von diesem Umweg hervorgerufene Phasendrehung entspricht der realen Reflexion. Je nach
Vorzeichen kann es auch erforderlich sein, den gedachten Reflexionspunkt vor den Steg zu
legen
-
und das gleiche gilt auch für den Sattel. Die effektive Saitenlänge kann somit von der
geometrischen abweichen, und je nach Lagerimpedanz frequenzabhängig kürzer oder länger
werden. Dies beeinflusst die Frequenzen der Teiltöne:
Ein federndes Lager verlängert die effektive Saitenlänge und erniedrigt die Schwingfrequenz;
je weicher die Feder, desto niedriger
f
. Ein massebelastetes Lager verkürzt die Saite und
erhöht die Schwingfrequenz; je leichter die Masse, desto höher die Frequenz.