10. Gitarrenverstärker
© M. Zollner 2007
10-258
Die letzte Aussage muss noch erläutert werden. Lassen wir zuerst den Guru zu Wort kommen:
Der Wert des Tangens-Delta bei einer bestimmten Frequenz ist nicht immer aussagekräftig
für den Klang, eher der Gesamtverlauf bis 100kHz. Steigt er stark an, werden nicht alle
Frequenzen gleich behandelt, ändert er sich zwischen 1kHz und 100kHz weniger (wie z.B. bei
Metallfolienkondensatoren üblich), so dürfte das Frequenzspektrum eines Impulsgemisches
zeitgenauer übertragen werden. Ein flacher Tangens-Delta-Anstieg von 1 kHz bis 100kHz in
Zusammenhang zu einem gleichzeitig stärker sinkenden ESR ist wünschenswert. Aus ähn-
lichen Gründen strebt man auch bei audiophilen Verstärkern Anstiegszeiten von unter 1
s an
(ca. 1 MHz Bandbreite)
. Falsch! Der Begriff "Anstiegszeit" ist in der Schaltungstechnik
gebräuchlich, er definiert die Zeitdauer, in der die Sprungantwort von 10% auf 90% ansteigt.
Die Anstiegszeit ist 2,2 mal so lang wie die Zeitkonstante, die wiederum reziprok zur Grenz-
kreis
frequenz ist. Die Grenzfrequenz erhält man daraus zu 2,2 / (2
π⋅
1
s) = 350 kHz. Also
nicht 1MHz. Auch falls nicht Anstiegszeit, sondern Einschwingzeit gemeint sein sollte, ist die
Bandbreitenangabe ebenfalls falsch: Mit 1
s Einschwingzeit erhält man bei steilflankiger
Bandbegrenzung eine Bandbreite von 500 kHz (beim Tiefpass erster Ordnung ist dieser Be-
griff eher ungebräuchlich). Aber egal, Anstiegszeiten unter 1
s, weil:
Auch die Überlagerung
von Raumhall zum Originalschall muss mikrosekundengenau übereinstimmen, damit das Ohr
den exakten Ort im Raum ausmachen kann.
Da kann man nun tatsächlich ins Grübeln kommen, das ist nicht komplett falsch. Die inter-
aurale Laufzeitschwelle (Lateralisationsunschärfe) kann unter Laborbedingungen schon mal
zu 10
s bestimmt werden, und sogar über noch kleinere Werte berichtet die Fachliteratur.
Und wenn man denn unbedingt den Faktor 10 als Sicherheitsabstand einsetzen möchte, landet
man tatsächlich bei 1
s. Daraus aber zu schließen, dass nun eine Bandbreite von 350 oder
500 oder gar 1000 kHz erforderlich sei, ist Unsinn. Man kann doch einen reinen 1-kHz-Ton
um 1
s verschieben, ohne in den HF-Bereich gehen zu müssen. Die oben erwähnten 10
s
Laufzeitauflösung erzielt das Gehör (wenn überhaupt) im mittleren Frequenzbereich, also
vielleicht bei 1 kHz oder 2 kHz. Bei 10 kHz wird diese Unterschiedsschwelle schon deutlich
größer (100
s als Richtwert, die Daten hängen sehr stark von den Versuchsbedingungen ab),
und über 20 kHz hört sowieso keiner mehr etwas. Oder doch?
Aber das weiß ja nun jeder Audiophile, dass die reine
Sinusanregung
mit realen Schallen
rein gar nichts zu tun hat, denn die enthalten ja jede Menge Impulse. Und so bringt es einer
der Gurus dann tatsächlich fertig, auf seiner Webpage einerseits 1MHz Bandbreite zu fordern,
und gleichzeitig auf eine Diplomarbeit zu verweisen, die die obere Grenzfrequenz des Gehörs
sehr zutreffend bei 19 kHz annimmt. Wie passt das zusammen? Da geht's ja nicht um 19 oder
20 oder doch besser 22 kHz, da wird locker mal ein Faktor 50 als Reserve eingebaut. In einem
Satz gleichzeitig eine Meinung und die dazugehörige Gegenmeinung zu vertreten, das schafft
sonst nur unsere Fußball-Lichtgestalt – deshalb entstand ja auch der Ausdruck: Eine Meinung
verfranzeln.
Im Falle der Audiobandbreite geht das Verfranzeln so:
Jedes, aber wirklich jedes Signal ist
eigentlich die Summe unendlich vieler Sinussignale
. Ja! An dem Baron Fourier kommt man
halt nicht vorbei, im Prinzip stimmt diese Aussage, nur das mit dem
"ist eigentlich"
nehmen
wir mal nicht so wörtlich. Denn: Hierbei handelt es sich um eine Modellbetrachtung, genauso
gut könnte man jedes Signal in viele andere (nicht einmal zwangsläufig orthogonale) Funk-
tionen entwickeln. Aber natürlich auch u.a. in sinusförmige Signale, das ist schon richtig. Und
was für Signale gilt, gilt auch für Systeme –
allerdings nur, wenn diese linear (und zeit-
invariant) sind: Die Betrachtung zeitlicher Vorgänge ist der Betrachtung spektraler Vorgänge