10.5 Endstufe
© M. Zollner 2007
10-99
Nun denn, lasset uns den 1000 Versionen eine 1001-te hinzufügen. Doch wie immer, ganz im
Goetheschen Sinne, alle Freuden, alle Leiden, bzw. per Aspera ad Astra: erst die Grundlagen.
In
Gegentakt-Endstufen
(und eigentlich geht's nur um diese) wird das Audiosignal zuerst in
zwei Teile zerlegt, getrennt verstärkt, und dann wieder zusammengesetzt. Dieses Teilen-und-
Zusammensetzen ist fehlerbehaftet, und hier greift die Ruhestromeinstellung an: Durch Ver-
ändern des Ruhestroms lässt sich der Klang verbessern. Oder verschlechtern, wenn man's
falsch macht. Ist der Ruhestrom zu klein, entstehen unschöne Verzerrungen, gleichzeitig wirkt
die Endstufe als Expander: Bei schwach angezupfter Gitarrensaite ist's zu leise, langt man
fester in die Saiten, brüllt der Verstärker los. Bei großem Ruhestrom (hot biasing) ist der
Klang gut, wenn nicht gerade andere Defizite vorliegen. Also möglichst großen Ruhestrom
einstellen? Nein, denn das reduziert die sowieso schon recht kurze Lebensdauer der End-
röhren, und zerstört u.U. das knapp dimensionierte Netzteil. Soweit die Haupteffekte.
Im Detail zeigen sich dann auch noch Effekte zweiter Ordnung: Bei kleinem Ruhestrom laden
sich die Sieb-Elkos der Betriebsspannung auf höhere Spannungswerte auf, was den Vor- und
Zwischenverstärkerstufen u.U. ein anderes Betriebsverhalten gibt. Große Effekte sind diesbe-
züglich zwar nicht zu erwarten, aber der Vollständigkeit halber sei's erwähnt. Ein kleiner
Effekt kann auch bei der Impulsleistung auftreten, also der Leistung, die beim Toneinsatz ge-
messen wird: Sind die Kondensatoren auf höhere Spannungswerte aufgeladen, ist die Impuls-
leistung etwas höher. Es macht aber keinen Sinn, allein deswegen den Ruhestrom zu ernied-
rigen, weil die damit einhergehenden Verzerrungen in aller Regel inakzeptabel sind. Wenn
man nicht mit den Kleinigkeiten beginnt, sondern die Haupteffekte betrachtet, lautet die ein-
fache Regel:
Kleiner Ruhestrom = Verzerrungen, großer Ruhestrom = Röhrentod
.
Nun ließt man aber auch: Große Bias = Verzerrungen, kleine Bias = Röhrentod. Wie dieses?
Ganz einfach: Die selbsternannten Experten, die in Gitarren- (und Bass-) -Magazinen ihre Ko-
lumnen über Verstärker schreiben (dürfen), haben bezüglich Schaltungstechnik sehr unter-
schiedliche Ausbildungen
. Der englische Begriff "
Bias
" wird in Fachkreisen mit "Vorspan-
nung" übersetzt – zumindest im o.g. Zusammenhang. In Magazin-Kolumnen wird er nicht
übersetzt. Das ist obercool, bzw. overcool, das versprüht Kompetenz. Nichts gegen deutsch-
englischen Wortmix, wer Oszillografen-Trigger mit Schwingschreiber-Auslöser übersetzt,
macht sich lächerlich. Trotz offensichtlicher Griechisch-Kenntnisse. Ob man jedoch eine
"Wiring-Harness" in die ES-335 einfädeln muss, ist schon ein anderes Kaliber, da könnte man
auch vom Kabelbaum reden. Könnte man nicht? Auch gut. Also
Bias
und
Wiring-Harness
und
Guitar & Bass
. Nein, das doch nicht, das heißt vorerst immer noch Gitarre & Bass. Wenn
sich nun
"die Bias um ein paar Milliampere verändert",
schiebt man dem Leser die Ver-
antwortung für die korrekte Übersetzung zu, und der vermutet dann Bias = Ruhestrom. Also:
Mehr Bias = mehr Ruhestrom. Der Amerikaner schreibt in seinen Amplifier-Lessons aber:
Less Bias = mehr Ruhestrom. Na klar, der meint "eine kleinere negative Vorspannung". So
ganz korrekt ist das auch nicht, denn "less than" bedeutet in der Mathematik "kleiner als";
demnach ist –50 < –40, bzw. "minus fifty is less than minus forty". In der Mathematik ist das
so. Außer man meint den Betrag, dann gilt wieder "abs(–50) is grater than abs(–40)". Und so
meint der eine dieses, und der andere jenes, und mit jeder neuen Bias-Erklärung wird der hell
strahlende Kolumnenschreiber eine Kometenklasse größer, und sein Schweif länger – und
trotzdem schart er nur einen undurchschaubaren Staubhaufen um sich. Per Aspera ad Astra,
bzw. das also ist des Doodles Kern. Schon wieder Goethe – das sollte nicht überhand nehmen,
obwohl man den Alten von Zeit zu Zeit
, aber halt nicht von Zeile zu Zeile. Deshalb zurück
zum Ruhestrom, zur Gitter-Vorspannung, nicht aber zur Bias: Dieser Begriff ist zu unpräzise.
Diese nach unten offene Bewertungsskala enthält auch das Prädikat "absolut überhaupt gar keine Ahnung".