8.7 Hörversuche
© M. Zollner 2004 - 2009
8-83
Abb. 8.47
zeigt die Frequenzabhängigkeit der
Vibrationsschwelle
, d.h. die Schwingungs-
amplitude, die erreicht werden muss, damit überhaupt eine Vibrationsempfindung entstehen
kann. Der genaue Verlauf der dargestellten Kurve hängt außer von Frequenz und Amplitude
noch von der Größe der schwingenden Fläche und vom gereizten Ort ab; die Darstellung kann
als typisch für das Thenar (Daumenballen) gelten. Wenn ein Gitarrist also beim Anschlagen
der Saiten im Gitarrenkorpus oder -hals eine Schwingung fühlt, so wird es sich hierbei vor
allem um niederfrequente Vibrationen handeln. Nimmt man für eine
Kontrollrechnung
10 N
Stegkraft, eine Masse von 4 kg und 250 Hz als Anregungsfrequenz, so erhält man 1
m Aus-
lenkung – kein Wunder also, dass fühlbare Schwingungen entstehen können, sogar ganz ohne
Resonanzverstärkung.
60
80
100
150
200
300
400
600
800
1k
0.1
0.15
0.2
0.3
0.4
0.6
0.8
1
1.5
2
Frequenz
/
Hz
Schwingungsamplitude
Vibrationsschwe le
m
Abb. 8.47:
Vibrationsschwelle. Nur die Werte,
die oberhalb der Schwelle liegen, führen zu einer
Vibrationswahrnehmung. Eine Schwingung mit
0,4
m Amplitude ist nach dieser Kurve bei 300
Hz wahrnehmbar, bei 800 Hz hingegen nicht
wahrnehmbar.
Die Frage ist also weniger, ob fühlbare Vibrationen entstehen können, sondern wie diese zu
bewerten sind. Greift man Les Pauls Idee nochmals auf, so wäre jede nennenswerte Korpus-
schwingung kontraproduktiv. Mit viel Masse (Zehnpfünder-Paula) nähert man sich diesem
Ideal auf Kosten des Tragekomforts, und unter Missachtung schwingungsverstärkender
Eigenmoden. Insbesondere der Gitarrenhals kann nicht beliebig schwer gemacht werden; er
wird bei jeder Gitarre fühlbar schwingen. Was aber würde passieren, wenn man Korpus und
Hals schwingungsfrei herstellen könnte? Auf jeder Gitarre dieser Art würden vergleichbare
Saiten bei vergleichbarem Anschlag identisch schwingen!
Individualität ist Imperfektion
,
und sie würde dabei auf der Strecke bleiben. Bei der Akustik-Gitarre versucht der Gitarren-
bauer, das Übertragungsmaß frequenzabhängig zu gestalten, und dadurch einige Frequenz-
bereiche besser, dafür aber andere schwächer abstrahlen zu lassen. So entsteht individueller
Klang. Auch bei der Elektro-Gitarre könnte man dieses Prinzip anwenden, und Hals und Kor-
pus bei bestimmten Frequenzen stärker schwingen lassen, d.h. Schwingungsenergie stärker
dissipieren lassen. Ob dies tatsächlich erwünscht ist, kann nur bei einer Gesamtbetrachtung
aller klangformender Elemente beurteilt werden. Es wäre aber schon ein großer Zufall, wenn
gerade die Frequenzbereiche, in denen der Vibrationssinn besonders empfindlich ist, die
stärkste Dämpfung bräuchten. Denn Eines steht unzweifelhaft fest: Die gefühlte Schwin-
gungsenergie kommt von der Saite. Je intensiver "die gesamte Konstruktion resoniert", desto
weniger schwingt die Saite. Les Pauls Ideen kann man widersprechen oder zustimmen. Dem
Energiesatz
sollte man tunlichst nicht widersprechen.
Ob man Day et al. widersprechen möchte, ist hingegen wieder freigestellt: "
Das Vibrato-
System selbst erhielt an den sechs dafür vorgesehenen Löchern eine messerkantenartige Aus-
arbeitung, so dass das ganze System sehr reibungsarm gelagert war, dafür aber trotzdem die
Schwingungen der Saiten optimal in den Korpus leiten konnte
." Ja, dieser Weg ist bekannt:
"
Denn das Gemeine geht klanglos zum Korpus hinab
". Schiller, Nänie. Oder so ähnlich.