1.1 Transversalwellen
© M. Zollner 2002
1-3
Die von den Reflexionen herrührende periodische Wiederholung kann als (zeitliche) Faltung
des Anregungsimpulses mit einem kausalen Dirac-Puls aufgefasst werden. Kausal bedeutet,
dass das Signal für negative Zeiten identisch null ist, ein kausaler Dirac-Puls enthält für
0
≥
t
äquidistante Dirac-Impulse. Einer zeitlichen Faltung entspricht im Spektralbereich eine
Multiplikation des Anregungsspektrums mit dem Spektrum des kausalen Dirac-Pulses, das
komplex sein muss, da die Zeitfunktion (kausaler Dirac-Puls) weder gerade noch ungerade ist
(Zuordnungssatz). Über eine Partialbruchzerlegung kann man zeigen, dass zum kausalen
Dirac-Puls ein kotangensförmiges Imaginärteilspektrum gehört; das Realteilspektrum ist ein
spektraler Dirac-Kamm. Dieses komplexe Spektrum müsste nun mit dem Anregungsspektrum
multipliziert werden, was aber für die meisten Betrachtungen immer noch zu kompliziert ist.
Aus diesem Grund wird weiter idealisiert: Die (unbedämpfte) Saitenschwingung wird nicht
bei
t
= 0 angeregt, sondern sie kommt aus der unendlichen Vergangenheit und dauert unend-
lich lang. Da sie periodisch stationär ist, kann eine Schwingungsperiode in eine Fourier-Reihe
entwickelt werden. Als Schwingungsspektrum entsteht ein
Linienspektrum
, mit Frequenz-
linien (Tönen) bei ganzzahligen Vielfachen der Grundfrequenz.
Damit kann man die Gesamtschwingung als Summe überlagerter (addierter) Einzeltöne auf-
fassen; sie werden Teiltöne, Partialtöne oder (wegen der ganzzahligen Frequenzrelationen)
Harmonische
genannt. Der Grundton ist die 1. Harmonische, bei der doppelten Grund-
frequenz befindet sich die 2. Harmonische, die in der Musik auch 1.
Oberton
genannt wird.
Entsprechendes gilt für die höheren Harmonischen (3. Harmonische = 2. Oberton etc.).
Die Realität unterscheidet sich von diesen Idealisierungen wesentlich. Ein Linienspektrum er-
fordert ein unendlich lang dauerndes, periodisches Signal. Periodisch bedeutet in der Signal-
theorie, dass ein bestimmter Signalabschnitt in identischer Form unendlich oft wiederholt
wird. Die Saite verliert beim Hin- und Herschwingen aber Energie, weswegen keine identi-
schen Abschnitte wiederholt werden können. Die Saitenschwingung ist somit ein nicht-
periodisches Signal, zu dem kein Linienspektrum gehört; die Spektrallinien werden vielmehr
dämpfungsbedingt zu "Trichtern" verbreitert. Ursache für den Energieverlust sind
Dissipation
und Strahlung: Die Saitenenergie wird teils direkt in Wärme umgewandelt, teils als Schall-
energie abgestrahlt. Ein weiterer Effekt, der für genaue Betrachtungen nicht ignoriert werden
darf, ist die in Kap. 1.3 ausführlicher beschriebene frequenzabhängige Ausbreitungsgeschwin-
digkeit (
Dispersion
).
Auch wenn die Saitenschwingung eigentlich dispersiv und dissipativ erfolgt, ist zum Ver-
ständnis der Bewegungsabläufe trotzdem die vereinfachte idealisierte Betrachtung sinnvoll,
solange nur kurze Zeitausschnitte betrachtet werden.
Beim idealisierten Anzupfen wird die Saite dreieckförmig ausgelenkt (
Abb. 1.2
). Wenn das
Plektrum (oder der Finger) den Kontakt mit der Saite verloren hat, schwingt diese (idealisiert)
frei und ungedämpft. Die Form der Querauslenkung kann man als Überlagerung zweier ent-
gegengesetzt laufender Teilwellen auffassen. Im Anzupf-Augenblick sind beide Teilwellen
identisch, laufen für
t
> 0 aber in entgegengesetzter Richtung auseinander; die Beträge der
Ausbreitungsgeschwindigkeiten sind gleich.
Die Auslenkung jeder Teilwelle ist für
t
= 0 am
Kopf- bzw. Stegsattel gleich null, am Anzupfpunkt ist sie maximal. Die dreieckige Form setzt
sich als Spiegelwelle am Kopf- bzw. Stegsattel punktsymmetrisch (ungerade) fort. Die Aus-
lenkungen beider
Teilwellen
werden überlagert zur Auslenkung der Saite, Analoges gilt für
alle Ableitungen, z.B. für die Geschwindigkeit.