11.3 Schallpegel-Frequenzgang
© M. Zollner 2008 - 2014
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11.3 Schallpegel-Frequenzgang
Ein linear/zeitinvariantes System wird durch seinen Betrags- und Phasengang eindeutig be-
schrieben. Nimmt man das Übertragungsverhalten eines Lautsprechers näherungsweise als
linear/zeitinvariant an, was bei nicht allzu großen Aussteuerungen durchaus zulässig ist, so ist
ein
Betrags-/Phasengang trotzdem völlig unzureichend: Der Lautsprecher ist kein Element der
elektrischen
Zweitorsysteme! Zwar weist er ein elektrisches Eingangstor auf (Anschlussklem-
men), ausgangsseitig beschallt er aber ein spezielles Feld, das vom Schalldruck (Skalar) und
von der Schallschnelle (Vektor) gebildet wird; beide Größen sind im dreidimensionalen Raum
ortsabhängig, und deshalb existieren unendlich viele Übertragungsfunktionen.
Um diese Problematik einigermaßen übersichtlich handhaben zu können, reduziert man das
Übertragungsverhalten auf Spezialfälle (Untermengen): Frequenzganganalysen in einer Rich-
tung, und/oder Richtungsanalysen bei einer Frequenz. Zur ersten Gruppe zählen insbesondere
die Frequenzgangmessungen "auf Achse", also: Mikrofon zentriert vor dem Lautsprecher, zur
zweiten Gruppe gehören die Richtdiagramme.
Bei Würdigung aller Details ist ein Lautsprecher-Frequenzgang unendlich kompliziert, des-
halb wird rigoros vereinfacht: Der Ausgangspunkt vieler Betrachtungen ist ein in eine sehr
große Schallwand eingebauter Lautsprecher, dessen Membran zunächst zur ebenen Platte
(sog. Kolbenmembran) vereinfacht wird [3]. Unter der Annahme linearen Verhaltens wird der
Strom proportional in eine Kraft abgebildet, die auf die Membran einwirkt und sie bewegt.
Die federnde Membranaufhängung und die Membranmasse bilden zusammen einen Resona-
tor, dessen Polfrequenz im Bereich 70 – 110 Hz liegt. Unterhalb dieser Pol- oder Resonanz-
frequenz wirkt die Membran näherungsweise als Feder, überresonant als Masse. Man sagt
auch: Unterresonant ist die Membran federgehemmt, überresonant ist sie massegehemmt. Bei
sinusförmigem Stromfluss entstehen die drei Bewegungsgrößen Auslenkung, Schnelle und
Beschleunigung, die durch Differentiation bzw. Integration ineinander umgerechnet werden
können. Da die Membran überresonant massegehemmt ist, wird für Stromeinprägung in die-
sem Frequenzbereich die Beschleunigung eingeprägt (Newton:
F
=
m
⋅
a
). Dass Lautsprecher
nicht immer mit Stromeinprägung betrieben werden, stellt im linearen Modell kein Problem
dar: Die elektrische Lautsprecher-Impedanz verknüpft Spannung und Strom.
Integration der Membranbeschleunigung liefert die Membranschnelle, aus der mit dem Real-
teil der Strahlungsimpedanz die abgestrahlte Schall-
Wirkleistung
berechnet werden kann [3].
Im einfachen Modell ist die abgestrahlte Wirkleistung zwischen der Resonanzfrequenz und
der durchmesserabhängigen oberen Grenzfrequenz frequenzun
abhängig; die
Grenzfrequenz
liegt beim 12"-Lautsprecher ungefähr bei 600 Hz, darüber fällt die abgestrahlte Leistung mit
1/
f
2
. Sagt die einfache Theorie. Auf Achse gemessene Frequenzgänge zeigen aber, dass der
typische Gitarren-Lautsprecher auch noch 5 kHz mit respektablem Pegel abstrahlt – erst darü-
ber fällt die Frequenzgangkurve ziemlich abrupt ab. Dies ist jedoch kein Widerspruch zur ein-
fachen Theorie, da Schallpegel und -leistung nicht äquivalent sind: Ab 600 Hz nimmt zwar
die abgestrahlte Leistung ab, sie wird aber mit zunehmender Bündelung auf den Bereich vor
der Membran fokussiert. Im einfachen Modell kompensieren sich sogar Leistungsabfall und
Bündelung, so dass auf Achse gar kein hochfrequenter Pegelabfall stattfindet. Doch hier be-
ginnen gravierende Unterschiede zwischen Theorie und Realität sichtbar zu werden: Die reale
Membran weicht in ihrem Schwingungsverhalten vor allem im hochfrequenten Bereich von
der idealisierenden Theorie ab. Während die Theorie der axial schwingenden Kolbenmembran
eine formstarre Membran voraussetzt, zeigt die reale Membran formändernde Partialschwin-
gungen; sie "bricht auf" und bildet Knotenlinien mit gegenphasig strahlenden Teilflächen.